Zwölf Fragen- mit Ekin Deligöz MdB (Bündnis 90/Die Grünen)

1555669 1 Deligz04 Redaktion: Liebe Frau Deligöz, wenige Tage nach dem versuchten Militärputsch in der Türkei führen wir dieses Interview. Wie sind Ihre Eindrücke?

Ekin Deligöz: Ich bin besorgt und beuunruhigt. Besorgt um die Menschen die dört leben und beuunruhigt, weil es nicht auszumachen ist, wie die Situation sich vor Ort weiter entwickelt. Wir beobachten fast stündlich, wie Menschenrechte missachtet werden und das Vertrauen in einen Rechtsstaat auf der Strecke bleibt. Meine größte Befürchtung ist, dass vor allem Minderheiten und liberal eingestellte Menschen einen sehr hohen Preis für diese Instabiltät zahlen müssen, mit ihren Rechten und ihrer Freiheit.

Am Ende werden alle Menschen in der Türkei einen hohen Preis zahlen. Politische Instabilität führt immer zu wirtschaftlichen Einbußen, hoher Arbeitlosigkeit, Armut und Spaltung der Gesellschaft.


R: Und sind Sie schon ein Türkeinachrichten-Junkie?

ED: Definitiv, ich informiere mich vorwiegend aus dem Netz, Facebook, Twitter aber auch den Nachrichtenportalen aus Deutschland und der Türkei. Diejenigen, die mutig und ehrlich aus der Türkei berichten und versuchen, möglichst authentisch zu informieren, werden inzwischen bedrängt und regelrecht bedroht. Das ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung. Gewalt hinterlässt immer Spuren, es traumatisiert und verängstigt Menschen. Hier sollen kritische Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Genau das dürfen wir nicht zulassen. Wenn solche Menschen und wir schweigen, dann hätten die Gegner der Meinungsfreiheit und der Menschlichkeit gewonnen. Wir sollten Bündnisse schließen und uns gegenseitig den Rücken stärken. Der nur wer ehrlich und reflektiert auftritt, kann Dummheit, Engstirnigkeit und Gewalt verhindern.


R: Wird man als Person mit türkischem Migrationshintergrund in der öffentlichen Wahhnehmung noch zu oft auf ‘Türkeithemen’ reduziert?

ED: Uns türkisch Abstämmigen wird qua Geburt unterstellt, dass wir Experten für die Türkei, den Islam und Integration sind. Wenn wir uns darauf einlassen, werden wir auf unsere Biografie reduziert und verlieren die Argumentationskraft in anderen Themen. Ich bin in die Sozialpolitik gegangen, weil ich davon überzeugt bin, dass die Grundlage gelingender Integration die Überwindung von sozialer Ungleichheit ist. Jedes Kind sollte bestmöglich gefördert werden. Für mich gehört zur Gerechtigkeit soziale Aufstiegschancen und die demokratische Teilhabe der Menschen. Ich bringe mit meiner Biografie meine Erfahrungen aus meiner Herkunftskultur in die Debatte ein. Bekanntlich führt Vielfalt zu besseren und überzeugenderen Ergebnissen.


R: Ein wichtiges Thema der letzten Woche war die sogenannte Armenier-Resoultion des Bundestages. Haben Sie im Anschluss daran ebenfalls Erfahrungen mit Anfeindungen oder Bedrohungen gemacht?

ED: Zahlreiche! Leider haben sich die wenigsten Absender die Mühe gemacht zu lesen, was in der Resolution steht. Darin geht es um die deutsche Verantwortung, nicht darum, über die Türkei zu richten. Ein ehrlicher Umgang mit der Geschichte tut einem Land gut und ist auch in der Türkei geboten. Vielleicht wäre dort manches anders gelaufen, vielleicht wäre Sivas nie passiert und viel Leid vermieden worden, wenn das Land sich aufrichtig mit der eigenen Geschichte befasst hätte. Ich werde versuchen, immer auf der Seite der Wahrheit, Klarheit und der Verantwortung zu sein, auch wenn es schwer ist, sich dafür einzusetzen. Die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern, aber wir können uns nur eine Zukunft aufbauen, wenn wir die Schatten der Vergangenheit lichten. “Düşünce Karanlığına Işık Tutanlara Ne Mutlu,“ sagte Haci Bektas Veli und das ist unser Auftrag.


R: Die Staatsverschuldung geht seit Jahren zurück und Deutschland ist auf dem besten Weg, das Maastricht-Kriterium von einer maximalen Staatsschuldenquote von 60 % zu erfüllen. Das klingt doch gut, finden Sie nicht?

ED: In der Tat sind das gute Vorzeichen. Es wird aber auf die lange Frist nicht ausreichen. Wir brauchen Investitionen in die Infrastruktur, in Bildung und Forschung sowie in die Überwindung von sozialer Ungleichheit, um Armut zu überwinden und den Menschen Aufstiegschancen zu schaffen. Nur mit sinnvollen Investitionen dieser Art wird es uns gelingen, dass es uns auch in Zukunft gut geht . Die jetzige Regierung verwaltet das Land, gestaltet es aber leider nicht nachhaltig und zukunftsfähig. Im Übrigen sitze ich im Haushaltsausschuss des Bundestages, um genau das voran zu bringen. Durch richtige Investitionen kann einiges auf den Weg gebracht werden. So setze ich mich zum Beispiel für einen alevitischen Lehrstuhl in Deutschland ein. Eine Juniorprofessur in Hamburg konnte so schon realisiert werden. Das ist aber erst der Anfang.


R: Der Mindestlohn ist im Übrigen auch gestiegen auf 8,84 € pro Stunde. Wie zufrieden sind Sie damit?

ED: Demnächst werden es 9,04 Euro sein. Es ist wichtig, dass Menschen anständig bezahlt werden für ihre Arbeit. Ziel ist es, sittenwiedrige Bezahlung zu vermeiden. Damit Menschen davon leben können und adäquat sozialversichert sind, müssen wir aber weiterhin Menschen besser ausbilden und qualifizieren, damit sie bessere Löhne erhalten können.


R: Ihre Position zur Vermögenssteuer?

ED: Wir brauchen definitiv eine gerechtere Vermögensbesteuerung. Es gibt keinen Grund, warum Einkommen aus Arbeit höher besteuert werden als aus Geldanlagen. Deshalb bin ich für die Abschaffung der Abgeltungssteuer. Auch über eine Erhöhung der Erbschaftsteuer müssen wir nachdenken, um auch in Zukunft sozialstaatliche Solidarität praktizieren zu können.

Bei einer Vermögenssteuer bin ich skeptischer. Private Investitionen von Unternehmen dürfen nicht erschwert werden, denn sie schaffen Arbeitsplätze. Aber genau darüber diskuttieren wir zur Zeit sehr intensiv in der Partei und werden alle Argumente pro und contra verantwortungsvoll abwägen.


R: Der Co-Bundesvorsitzende der Grünen Cem Özdemir ist aktuell auf Platz vier der beliebtesten Politiker Deutschlands. Wie wichtig ist das für die Partei und vielleicht auch für das Selbstbewustsein der Menschen mit Migrationshintergrund?

ED: Cem war der erste Migrant im Bundestag und hat damit anderen Migranten Mut gemacht, ebenso Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen. Im nächsten Schritt muss es selbstverständlich werden, dass wir in Deutschland dazu gehören, mitbestimmen, Verantwortung übernehmen und auch sozial aufsteigen. Der Weg ist nicht selbstverständlich. Deshalb braucht es umso mehr Menschen, die diesen steinigen Weg begehen und für andere, die nachfolgen, ihren Weg ebnen.


R: Wer ist eigentlich das politische Vorbild von Ekin Deligöz?

ED: Meine Annenanne. Sie hat sich in Tokat unter den schwierigsten Umständen für bessere Schulen, Strom und Wasser in den Dörfern sowie für allgemein zugängliche Gesundheitszentren eingesetzt. Und das, obwohl sie es als Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft und als Alevitin in einer sunnitischen Umgebung alles andere als leicht hatte. Sie war erfolgreich und darauf bin ich sehr stolz.


R: Wessen Konzert würden Sie ungerne verpassen?

ED: Asik Veysel, leider bin ich dafür zu spät geboren. Deshalb muss ich mit seinen Schülerinnen und Schülern vorlieb nehmen. Ich hätte auch wahnsinnig gern Pir Sultan Abdal gehört, meine Familie kommt ursprünglich aus Banaz (Sivas), seinem Dorf. So kann ich nur seine Gedichte immer wieder und wieder lesen.


R: Das letzte türkischsprachige Buch, das Sie gelesen haben?

ED: Ich lese zur Zeit Can Dündar, Chefredakteur von Cumhuriyet, “Tutuklandik”. Die Memoiren aus dem Gefängnis, nach seiner Festnahme im vergangenen Jahr. Sehr beeindruckend und empfehlenswert. Ich bin ihm persönlich vor ein paar Tagen begegnet und bewundere seinen Mut und Aufrichtigkeit. Das Buch kommt übrigens im Herbst auf Deutsch raus.


R: Zuletzt; wie ist Ihr Eindruck von der alevitischen Verbandsarbeit in Deutschland?

Ich finde, ihr macht gute Arbeit. Es ist wichtig, dass sich Aleviten organisieren und verbünden. Gemeinsam haben wir eine starke Stimme für unsere Rechte. Wir wissen, dass uns nichts geschenkt wird, also müssen wir uns gegenseitig den Rücken stärken. Ich weiß, dass in der schwierigsten Stunde ich in euch meine Freunde habe und das gibt mir Mut und Stärke für meine Arbeit.

Nazim Hikmet schrieb in einem seiner Gedichte:

Sen yanmazsan, ben yanmazsan, biz yanmazsak, nasil cikar karanlıklar aydinliga?

Wenn du nicht dafür brennst und ich nicht brenne und wir nicht brennen, wie sollen wir dann jemals Licht in die Dunkelheit bringen?

Das ist unsere gemeinsame Rolle in der Gesellschaft: Licht in die Dunkelheit zu bringen. Aufklärung, Wissen und Verteidigung von Rechten, das ist unser Auftrag. Alevitsein ist nicht nur eine Religion, sondern eine Lebensphilosophie. Das erfordert Zusammehalt und Einsatz. Nur so kann alevitischer Unterricht angeboten, CemHäuser gebaut und unsere Gemeinschaft gelebt werden. Der Verband ist inzwischen ein Partner für Politik und Gesellschaft und eine starke Stimme der Vernunft innerhalb der türkischen Migranten in Deutschland und Europa.


R: Herzlichen Dank für das Interview...

ED:Ich danke euch! Bleibt so wie ihr seid, ihr werdet gebraucht!